Klar ist: Niemand beabsichtigt, abhängig zu werden
Was ist unter einer substanzgebundenen Abhängigkeit zu verstehen? Gibt es bestimmte Trends beim Konsumieren von Drogen unter Kinder und Jugendlichen? Und was hilft bei einer Suchterkrankung? Diese und weitere Fragen beantwortet Tim Alt, Psychologischer Psychotherapeut im Interview.
Wenn wir von einer substanzgebundenen Sucht bei Kindern und Jugendlichen sprechen – was ist darunter zu verstehen?
Eine substanzgebundene Sucht lässt sich anhand verschiedener Diagnosekriterien erkennen. Betroffene Kinder und Jugendliche empfinden ein starkes Verlangen nach einer bestimmten Substanz. Sie können nicht einfach sagen: Jetzt höre ich auf zu konsumieren. Zudem ist eine Toleranzentwicklung zu beobachten, der Körper gewöhnt sich an die Wirkung der Substanz. Daher treten Entzugssymptome auf, wenn die Substanz nicht eingenommen wird. Zudem strukturieren die jungen Menschen ihr Leben oftmals komplett um den Konsum herum. Und sie konsumieren, obwohl dies schädliche Folgen hat. Wir sprechen von einer substanzgebundenen Sucht, wenn mindestens drei dieser Kriterien länger als vier Wochen lang erfüllt sind.
In welchem Alter kommen Jugendliche in der Regel zum ersten Mal in Kontakt mit Drogen?
Das ist ganz unterschiedlich. Wir beobachten, dass viele Kinder und Jugendliche bereits mit elf, zwölf oder dreizehn Jahren zum ersten Mal in Kontakt mit Drogen kommen.
Welche Substanzen sind unter Kindern und Jugendlichen besonders verbreitet?
Am weitesten verbreitet sind Alkohol und Nikotin. In der Klinik behandeln wir viele Jugendliche mit einer Cannabisabhängigkeit, ebenso Betroffene, die Stimulanzien wie Ecstasy, Kokain oder Amphetamine nehmen. Es lassen sich immer wieder bestimmte Trends beobachten. Während der Corona-Pandemie wurden beispielsweise weniger aufputschende Partydrogen konsumiert, auch das „gesellige Kiffen in der Gruppe“ nahm ab. Stattdessen griffen mehr Jugendliche zu Benzodiazepinen, also zu starken Beruhigungsmitteln. Auch Heroin ist einwieder ein Thema geworden.
"Wir beobachten, dass es einen Zusammenhang gibt, zwischen der Psyche und dem, was konsumiert wird"
Welche Gründe geben Kinder & Jugendliche für den Konsum von Drogen an?
Klar ist: Niemand beabsichtigt, abhängig zu werden. Manchmal geht es darum, etwas auszuprobieren, zu experimentieren, dazu zu gehören. Wir beobachten, dass es häufig einen Zusammenhang gibt, zwischen der psychischen Situation und dem, was konsumiert wird. Jugendliche, die stark dämpfende Mittel nehmen, möchten oftmals bestimmte Erlebnisse vergessen oder negative Gefühle verdrängen. Dass der Konsum von Drogen langfristig hilft, ist allerdings ein Irrglaube. Stattdessen werden die Probleme, die die Jugendliche lösen möchten, durch den Konsum eher schlimmer. Betroffene lernen außerdem nicht, mit ihren Problemen umzugehen, denn die Drogen vermitteln: Hey, ist doch alles super. Dass sie abhängig werden, merken die Jugendlichen oftmals erst gar nicht.
„Ich probiere ja nur mal aus“ – Kann das harmlos sein?
Ich sage mal so: Der Konsum von Drogen ist immer ein Spiel mit dem Feuer. Natürlich gibt es Jugendliche, die ein paar Mal konsumieren und nicht abhängig werden. Es gibt allerdings eine genetische Anfälligkeit für die Entwicklung von Suchterkrankungen. Bei manchen Menschen löst der Konsum ein höheres Belohnungsgefühl aus als bei anderen. Das weiß man vorher ja aber nicht. Es gibt keine harmlose Droge. Viele Jugendliche sagen: Ich kiffe ja nur. Der Konsum von Cannabis wirkt sich auf Dauer bei Kindern und Jugendlichen jedoch negativ auf die Gehirnentwicklung aus.
Was hilft bei einer substanzgebundenen Abhängigkeit?
Wichtig ist, sich so früh wie möglich, professionelle Hilfe zu suchen, beispielsweise bei einer Drogenberatungsstelle. Bei Eltern oder Angehörigen ist das Gefühl der Hilflosigkeit oftmals sehr stark ausgeprägt, wenn das eigene Kind konsumiert. Es bringt meist jedoch nichts, Vorwürfe zu machen oder zu fragen: Warum hörst du nicht auf? Stattdessen sollten Eltern versuchen, gemeinsam mit dem Kind gegen die Erkrankung vorzugehen, sich auch ausführlich über die Erkrankung zu informieren.
Wie sieht die Hilfe in der Klinik bei einer substanzgebundenen Sucht generell aus?
In der Klinik bieten wir eine Qualifizierte Entzugsbehandlung an, die 21 Tage dauert. Neben dem körperlichen Entzug haben die Jugendlichen auch Gespräche mit Entzugstherapeuten, sie nehmen an Gruppentherapien teil, an Fachtherapien, am Schulunterricht und schauen gemeinsam mit unserem Sozialdienst nach Perspektiven. Wie es danach weitergeht, kommt immer individuell auf die Betroffenen an. Manche werden direkt nach Hause entlassen, manche gehen in eine Wohngruppe oder machen stationär eine Reha. Auch wir bieten weitere Behandlungsmöglichkeiten bei uns an, wenn die Jugendlichen dies wollen. Da geht es dann mehr um psychotherapeutische Aspekte.
Wie erleben Sie die Jugendlichen während ihres Aufenthaltes in der Klinik?
Auch das ist ganz unterschiedlich. Manche Jugendliche sind aufgrund von Auflagen hier. Da geht es dann erst einmal darum, zu motivieren, überhaupt dauerhaft clean bleiben zu wollen. Für manche Jugendliche ist es auch gar nicht so einfach, sich einzugestehen, suchtkrank zu sein. Viele denken nach einer gewissen Zeit aber auch sehr reflektiert über ihre Sucht und die Folgen nach. Manche haben Freundschaften dadurch verloren, die Schule vernachlässigt oder abgebrochen, die eigenen Eltern beklaut, sich verkauft, all ihre Interessen aufgegeben – das muss dann natürlich aufgearbeitet werden.