"Niemand kann etwas dafür, gemobbt zu werden"
Wenn Kinder und Jugendliche gemobbt werden, kann das weitreichende psychische Folgen für sie haben. Viele suchen die Schuld bei sich selbst. „Niemand kann etwas dafür, gemobbt zu werden.“, stellt Dr. Christian Zoll, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie an unserer Tagesklinik in Borken, klar. Im Interview erklärt der Kollege, was unter Mobbing eigentlich zu verstehen ist, welche Motive Täterinnen und Täter haben und was Betroffene tun können, um sich gegen Schikanen, Demütigungen und Ausgrenzungen zur Wehr zu setzen.
Mobbing ist ein allgegenwärtiges Phänomen – auch unter Kindern und Jugendlichen. Was aber genau meint „Mobbing“ eigentlich?
Mobbing ist ein soziologischer Begriff und meint Folgendes: Eine Person oder eine Gruppe grenzt eine andere Person durch Demütigungen, Schikanen und Herabsetzungen aus. Das passiert regelmäßig, systematisch und über einen längeren Zeitraum. Dabei entsteht ein Ungleichgewicht. Während das Opfer seelische Verletzungen erleidet, fühlt sich der Täter oder die Täterin stärker und hat Vorteile in der Gruppe. Insbesondere Kinder und Jugendliche probieren sich natürlich aus, testen ihre Grenzen und suchen Konflikte – das ist Teil ihrer Identitätsentwicklung. Eine einmalige Auseinandersetzung zwischen zwei Schülern auf Augenhöhe ist daher nicht gleich als Mobbing zu begreifen. Erlebt ein Kind jedoch immer wieder über Wochen oder Monate gezielte feindselige Handlungen, kann das eine traumatische Erfahrung sein.
Von welchen feindseligen Handlungen sprechen wir hier – wie sieht Mobbing konkret aus?
Mobbing kann überall vorkommen, in der Schule, am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft oder online. Es gibt das verbale Mobbing. Da sind es Worte, Beschimpfungen und Beleidigungen, mit denen die Täter oder Täterinnen andere gezielt verletzten. Beim physischen Mobbing kommt es zu körperlicher Gewalt – es wird getreten, geschubst oder geschlagen. Relationales Mobbing meint dagegen die soziale Ausgrenzung, zum Beispiel durch die Verbreitung von Gerüchten. Das Tückische am Mobbing: es findet teilweise sehr subtil statt. Ein hämischer Blick, heimliches Tuscheln, eine Party, zu der nicht eingeladen wird - sowas kann für die Betroffenen extrem belastend sein.
Warum mobben Kinder andere Kinder – welche Motive veranlassen sie dazu?
Die meisten Täter oder Täterinnen fühlen sich stärker, wenn andere Angst vor ihnen haben. Es geht vordergründig um Macht, darum, die eigene Rolle in der Gruppe zu festigen und von den eigenen Schwächen abzulenken. Auch Neid und Missgunst können Motive sein. Manche Kinder oder Jugendliche mobben andere, um zu verhindern, selbst gemobbt zu werden. Oder sie haben bereits eigene Erfahrungen mit Gewalt gemacht und lassen aufgestaute Aggressionen an anderen aus.
Welche Folgen kann Mobbing für Betroffene haben?
Betroffene verspüren eine große Unsicherheit und Hilflosigkeit. Manche Kinder versuchen, die erlebte Gewalt zurückzugeben und werden aggressiv. Meist ziehen die Opfer sich jedoch zurück. Sie isolieren sich und leiden im Stillen. Viele suchen die Schuld bei sich selbst. Ich bin nicht cool genug, ich bin nicht hübsch genug, ich bin zu unsportlich – diese Gedanken sind dann sehr präsent. Das verringert den Selbstwert. Oftmals wollen die Betroffenen nicht mehr in die Schule gehen. Auch körperliche Beschwerden, Depressionen oder selbstverletzendes Verhalten bis hin zu Suizidalität sind mögliche Folgen von erlebtem Mobbing.
Was können betroffene Kinder und Jugendliche tun?
Viele Kinder und Jugendliche haben die Befürchtung, dass sich die Lage verschlimmert, wenn die Eltern oder Lehrer bzw. Lehrerinnen von den Schikanen erfahren. Sie schweigen daher lieber. Die Situation heimlich auszuhalten, hilft auf Dauer nicht. Stattdessen sollten die Betroffenen sich an eine Vertrauensperson wenden, um Unterstützung zu erhalten. Sinnvoll kann auch sein, ein Tagebuch zu führen und die Herabsetzungen zu dokumentieren. Falls es zu rechtlichen Schritten wie einer Anzeige kommt, können solche Dokumentationen wichtig sein. Mobbing kann weitreichende psychische Konsequenzen für die Betroffenen haben – es ist daher außerdem ratsam, diese mit professioneller Unterstützung aufzuarbeiten. Im Rahmen einer Therapie lernen die Kinder oder Jugendlichen, dass sie selbst keinerlei Schuld am Erlebten tragen. Es geht dann unter anderem darum, neue Ressourcen zu entdecken, soziale Fähigkeiten auszubauen und den Selbstwert zu stärken. Manchmal geht es sogar um Traumatherapie oder letztlich auch um die Frage, wie man aus der „erlebten und gefühlten“ Opferrolle rauskommt wieder quasi aktiv und selbstwirksam werden kann.
Wie können die Eltern helfen?
Bei Verhaltensänderungen des Kindes sollten Eltern sehr aufmerksam sein, vorsichtig und sensibel nachfragen, ohne zu drängen. Genaues Zuhören ist sehr wichtig. Statt sich an die Eltern der Täterinnen und Täter zu wenden, würde ich empfehlen, das Gespräch mit der Schule zu suchen. Gemeinsam mit den dort zuständigen Lehrern oder Lehrerinnen kann dann überlegt werden, welche Schritte und Maßnahmen sinnvoll sind.
Gibt es Möglichkeiten, Mobbing an Schulen vorzubeugen?
Grundsätzlich ist Mobbing als strukturelles Problem zu betrachten. Wenn in der Schule ein Klima herrscht, das durchdrungen ist von dem Gedanken: „Ich muss mich größer machen“ oder in dem lieber weggeguckt und geschwiegen wird, ist das extrem problematisch. Es muss eine Null-Toleranz bei Mobbing geben. Prävention ist daher extrem wichtig – die Schulen sollten nicht erst mit Maßnahmen starten, wenn Mobbing bereits vorkommt.