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„Nur noch eine Folge“ – Kann Binge-Watching süchtig machen?

Wer kennt es nicht? Endet die Folge einer neuen Lieblingsserie, scheint es nahezu unmöglich, mit der nächsten Folge zu warten. Zu groß ist die Neugier, wie es weitergeht. „Eine noch“, denken wir dann – und ehe wir uns versehen, befinden wir uns in einem nicht endenden Serienmarathon. Wann aber wird Binge-Watching für Kinder und Jugendliche problematisch? Das erklärt Dr. Mathura Vigneswaran, Ambulanzärztin in unserer Marler Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie.

Was genau meint Binge-Watching?

„Binge-Watching“ meint den klassischen Serienmarathon. Das englische Wort „to binge“ lässt sich mit „verschlingen“ übersetzen, das Wort „watching“ mit „schauen“. Wenn ich „bingewatche“, schaue ich also mehrere Episoden einer Serie am Stück, mehrere Filme oder Videos direkt nacheinander. Auch bei Kindern und Jugendlichen lässt sich diese Form der Medienrezeption beobachten.

„Bingewatchen“ – ist das ein neues Phänomen unter Kinder und Jugendlichen?

Tatsächlich ist Binge-Watching kein ganz so neues Phänomen. Auch Videokassetten oder DVDs waren bereits Alternativen zum linearen Fernsehen. Die heutigen Streaming-Anbieter wie bspw. Netflix, Amazon Prime oder YouTube machen den klassischen Serienmarathon allerdings noch einmal bequemer. Serien, Videos und Filme stehen nahezu unbegrenzt jederzeit zur Verfügung. Zudem setzen die Streamingdienste verschiedene Strategien ein, um zum Weiterschauen zu bewegen.

Welche Strategien sind das beispielsweise?

Da gibt es schon den ein oder anderen Trick. Zuerst einmal sind bei den meisten Serien direkt alle Folge abrufbar. Wir müssen also nicht erst warten, bis wir endlich erfahren, wie unsere neueste Lieblingsstaffel weitergeht. Ist eine Folge zu Ende, startet praktischerweise nach wenigen Sekunden schon die nächste automatisch – ohne, dass ein Griff zur Fernbedienung notwendig ist. „Eine noch“, denken wir dann. Das Intro lässt sich meist überspringen, es gibt keine Werbeunterbrechungen. Spannende Cliffhanger machen es noch einmal schwieriger, mit dem „bingewatchen“ aufzuhören. Aufgrund des bereits Gesehenen werden uns zudem Vorschläge für weitere Inhalte gemacht, wir bekommen beispielsweise eine Liste mit Vorschlägen für den „perfekten Serienmarathon“.

"Nicht die Nutzungszeit entscheidet zwangsläufig über einen ungesunden Konsum. Wichtig ist, dass andere Lebensbereiche wie Schule, Freunde und Hobbys nicht vernachlässigt werden"

Den Gedanken „Nur noch eine Folge“ kennen wohl die meisten – aber kann das Schauen von Serien süchtig machen?

Ähnlich wie bei anderen medienbezogenen Störungen wird Binge-Watching im klinischen Sinne nicht als Sucht bewertet – auch, weil die Studienlage und Forschung zu diesem Thema noch in den Kinderschuhen steckt. Es sind allerdings Parallelen zu anderen Abhängigkeitserkrankungen erkennbar.

Welche Parallelen sind das?

Beim Binge-Watching vergeht die Zeit oft wie im Flug, sodass Kinder und Jugendliche oftmals mehrere Stunden am Stück mit dem Schauen von Serien oder Videos beschäftigt sind – manchmal sogar bis tief in die Nacht hinein. Binge-Watching kann also durchaus mit Schlafstörungen, Interessensverlust, einem Kontrollverlust, sozialem Rückzug oder der Vernachlässigung anderer Lebensbereiche einhergehen. Auch gesundheitliche Beeinträchtigungen, wie zum Beispiel Kopfschmerzen sind möglich. Manche Kinder oder Jugendliche nutzen das Bingewatchen auch als Strategie, um negative Gefühle oder Gedanken zu verdrängen.

Ist denn jeder Serienmarathon gleich problematisch?

Nein, Serien und Filme können unterhalten und entspannen. Insbesondere Jugendliche streben außerdem nach sozialer Anbindung in der Gruppe gleichaltriger – sie tauschen sich untereinander über die Medieninhalte aus.  Zudem stellen Seriencharaktere manchmal auch Rollenbilder dar, mit denen sich junge, identitätssuchende Menschen identifizieren können.

Wann wird das Schauen von Serien und Videos problematisch?

Der Zeitvertreib mit dem Schauen von Serien und Filmen erfordert ein hohes Maß an Eigenverantwortung. Ich muss mich damit auseinandersetzen, was ich schaue und wie lange ich schaue. So wie beim Medienkonsum im Generellen gilt auch beim Binge-Watching: Nicht die Nutzungszeit entscheidet zwangsläufig über einen ungesunden Konsum. Wichtig ist, dass andere Lebensbereiche wie Schule, Freunde und Hobbys nicht vernachlässigt und auch gesunde, Strategien zum Umgang mit negativen Emotionen oder Langeweile erlernt werden.

Wie können Jugendliche exzessives Binge-Watching vermeiden?

Es kann beispielsweise helfen, Nutzungszeiten festzulegen. Ich sollte außerdem nur schauen, was mir wirklich gefällt. Zu vermeiden ist das sogenannte „Cringe-Watching“, bei dem ich alleine irgendwas nebenbei gucke, während ich noch am Handy bin. Empirische Daten zeigen, dass diese Art des Zeitvertreibs im Nachhinein oft bereut wird. Gesünder ist es, das bewusste Schauen von Inhalten zu planen, gemeinsam mit der Familie, Freunden, dem Partner oder der Partnerin, was auch „Feast-Watching“ genannt wird. Zudem ist es hilfreich, sich mit den Strategien der Streaming-Anbieter auseinanderzusetzen und diesen gezielt entgegenzuwirken –zum Beispiel, indem ich das automatisch Abspielen von Folgen in den Kontoeinstellungen ausschalte. Wichtig ist außerdem, sich Offline-Aktivitäten zu suchen, die einem Spaß machen, um gesunde Strategien der Stressbewältigung zu entwickeln.